Sacha Kagan

Sacha

Vortrags-Reihe & Vortrag:

16-Symposium
Play Space Symposium

 

 

 

  

  

  

sachakagan.wordpress.com

  

Sacha-bookDr. Sacha Kagan betreibt transdisziplinäre Forschung zu "Kulturen der Nachhaltigkeit" sowie zu Kunst und Soziologe an der Leuphana Universität (Lüneburg, Deutschland). Er ist Koordinator des Netzwerks für die Soziologie der Künste bei der ESA (European Sociological Association) und aktives Mitglied in mehreren anderen Netzwerke in wissenschaftlichen und künstlerischen Bereichen.
Er ist der Autor des international erschienenen Buches "Kunst und Nachhaltigkeit" (transcript Verlag, 2011). Auf der Suche zum Thema zeigte sich daß die Ästhetik der Komplexität den kulturell – kreativen Schlüssel bildet auf der Suche zu einer Transformation in die Nachhaltigkeit.
Seine Forschungsinteressen umfassen die Rollen von Künstlern in urbanen "Anthropo-Szenen" als „Bereiche von Möglichkeiten“ und die Beiträge der Queer- und BDSM orientierten Szene zur „Ästhetik der Komplexität“.

  

  

  

Zwischen den Frontlinien und Hinterbühnen der Verkörperung
(Shifting Backstages and Frontlines of Embodiment)

Play Space Vortrags-Reihe kuratiert von Dr. Sacha Kagan

Als Hinterbühnen werden Bereiche unseres Denken und Handelns bezeichnet, welche der Öffentlichkeit weitestgehend verborgen bleiben, jedoch wesentlichen Einfluss auf unser Verhalten und unsere Kommunikation haben. Oft enthüllt ein Blick hinter die Kulissen (Hinterbühnen) interessante Aspekte in Bezug auf die Motivation, die Mechanismen und die Probleme hinter unserem Handeln und Verhalten im sichtbaren, öffentlichen Auftreten und offenbart die Instrumente und Verbindungen derer wir uns im Hintergrund bedienen und welch großen Einfluss sie auf unser persönliches und soziales Leben haben.

Fronten sind Bereiche, in denen über umstrittene Themen („Heisse Eisen“ oder Reizthemen) gekämpft oder diskutiert wird. Sie bergen das Risiko, komplexe und differenzierte Zusammenhänge zu vereinfachen, um Gegensätze herauszustellen und einen klaren Standpunkt einzunehmen. Manchmal bewegen sich Hinterbühnen zur Front oder umgekehrt. Manche Bereiche können sogar gleichzeitig Fronten und Hinterbühnen sein und die relativen Positionen von Fronten und Hinterbühnen können sich mehr oder weniger schnell verschieben.

„Verkörperung“ ist die gemeinsame Ebene der meisten Praktiken, die im Xplore-Festival anzutreffen sind (Bodywork, Sex-positive, BDSM, Queer). Allerdings wird Verkörperung oft ausschließlich aus einem positiven Winkel betrachtet - ohne ausreichende Aufmerksamkeit für die Hinterbühnen, Widersprüche und Vieldeutigkeiten, die sich an einigen Fronten der Verkörperung abspielen. In diesem Jahr wird der ‚Vortrags-Play-Space‘ der Xplore (eine Verbindung des ‚Silent Space‘ und des Reflektions-Raums, der letztes Jahr ‚Xplore Symposium‘ hieß) unsere Aufmerksamkeit auf die „Hinterbühnen“ und Frontlinien der Verkörperung“ lenken und Teilnehmende einladen, über Verkörperung nachzudenken, ohne sich auf die bequemen Pfade und gefälligsten Gedanken zu beschränken.

Auf der persönlichen Ebene ist das Innere unseres Körpers gleichzeitig Hinterbühne und Front der Verkörperung. Die Xplore-Vortragenden werden die Beziehungen zwischen den inneren Organen und dem inneren Selbst (Marius Presterud) und dem gewaltigen Dialog zwischen Autoimmunerkrankungen und dem eigenen Körper (Nathalie Blanc) erkunden. Auf der sozialen Ebene haben die Praktiken und Gruppen, die von sexpositiven und verwandten Bewegungen geschaffen wurden eine schattenhaftere und oft weniger reflektierte Beziehung zur gegenwärtigen sozio-ökonomischen Ordnung und den Mechanismen des globalen Kapitalismus in seiner ‚neoliberalen‘ Form (Peter Banki).

Gleichzeitig bewegt sich das Ensemble körperlicher, persönlicher und sozialer Praktiken im BDSM an einer Grenze, die die Verschiebung und das Verschwimmen von Hinterbühnen und Fronten steigert, indem sie das Reale und das Fiktive verschränkt und einen zwiespältigen Zugang zu unseren Fantasien erlaubt (Regine Herbrik). BDSM könnte sich sogar von den Hinterbühnen zu den Fronten unserer Gesellschaft verlagern, weil es einen Scharfsinn trainiert, der es ermöglicht, die herrschende Angst vor Vielschichtigkeit zu durchbrechen, die zu viele manichäische Ethiken erzeugt hat und eine dialektische Illusion der Lösung komplexer Dilemmata (Sacha Kagan).

  

  

Sacha-WS

Vortrag: BDSM-Scharfsinn: Komplexitäten verkörpern
(BDSM Sagacity: embodying complexity)

Play Space Vortrag von Dr. Sacha Kagan

Widersprüche, Paradoxien und Tabu-Brüche sind ein Kern der intensiven Faszination, die BDSM auf BDSM-Praktizierende ausübt. Wie Volker Woltersdorff argumentiert: „Anders als in vielen anderen Diskursen, die sich auf Dialektik beziehen, wird im BDSM die Spannung zwischen Widersprüchen nicht auf einer höheren Bewusstseinsebene aufgelöst – oder der Thrill geht verloren. Daher drängt uns BDSM, eine andere Art der Komplementarität zu entwerfen, die sich von der ‚Synthese‘ unterscheidet, die durch die klassischen Dialektiken angeboten wird.“ Diese andere Art, mit Dualitäten umzugehen, kommt den „Dia-Logiken“ („dia-logics“) von Edgar Morin am nächsten (sogar mehr als der „Dialogik“ [„dialogic“] von Mikhail Bakhtin). Jenseits stereotyper Rollenspiele, können BDSM-Praktiken Ambivalenzen aufrechterhalten und in Ambiguitäten schwelgen, zwischen verschiedenen Realitäten vermitteln, ohne sie zu verflachen. Dadurch können BDSM-Spiele und -Lebensstile eine Sensibilität für qualitative Komplexität (nach Edgar Morin) fördern durch eine vermehrte körperliche, sinnliche, emotionale und ästhetische Erfahrung.

In dieser Vortrags-Intervention auf der Xplore wird Sacha Kagan durch Reflexionen über eigene und anderer Menschen Praktiken zusammen mit den Teilnehmenden verschiedene Aspekte herausarbeiten, wie BDSM ein potenzielles Spielfeld darstellt, das es uns erlaubt, Konstruktionen, Grenzen und (De-/Re-)Formationen diverser Dualitäten zu erkunden und mit ihnen zu experimentieren, jenseits einer dichotomen Form (die für unsere Existenz relevant ist in Bezug auf Sexualität, Gender, Communities, Religion, Politik, Natur, Identität etc.): selbst vs. der/die/das Andere, aktiv vs. passiv, dominant vs. submissiv, Kontrolle vs. Hingabe, Schmerz vs. Lust, egoistisch vs. selbstlos, transzendent vs. immanent, profan vs. sprituell, emanzipatorisch vs. befremdlich, unabhängig vs. abhängig vs. interdependent etc.

Zum Beispiel: Machtbeziehungen und ihre komplexen Spannungen nehmen eine reichhaltige und komplexe Substanz an, wenn sie erlebt und erkundet werden. BDSM-Praktiker_innen sprechen von einem Macht-„Flow“, der zwischen den submissiven und dominanten Partner_innen fließt, und BDSM-Diskurse sprechen von einem „Macht-Austausch“ (power exchange). Dies erlaubt es, Macht jenseits vereinfachter Dichotomien von Dominanz/Unterwerfung und Unterdrückung/Knechtschaft zu erleben und zu denken und gleichzeitig eine erhöhte Bewusstheit über die verschiedenen Grade und Formen faktischer Dominanz/Herrschaft und Unterdrückung zu erlangen wie auch über die Bedingungen und Komplizitäten, die diese ermöglichen.

Es kann gut sein, dass unsere Zivilisation in einem von wachsenden Konflikten und globalen ökologischen, politischen und ökonomischen Bedrohungen geprägten Zeitalter nicht überleben wird, wenn wir weiterhin nach weitgehend vereinfachenden dichotomen Schemata und Metaphern leben. Wenn sie gründlich reflektiert wird, kann die (Ästh)Ethik der Komplexität, die im BDSM (und andernorts) geübt wird, einen machtvollen Scharfsinn trainieren, der auch in sozialen Lernprozessen genutzt werden kann und uns helfen kann, uns über die heutigen nicht-nachhaltigen Zeiten hinauszubewegen.

Die Vortrags-Intervention wird Phasen der Lesung des Vortragenden mit stillen musik-begleiteten Phasen und Interaktion mit den Teilnehmenden abwechseln.

  

  

Photos: © Detlev Hoffmann